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                                                                    Wechselpräpositionen

                                                        

Bardhana ging die Treppe hoch. Im ersten Stock angekommen lehnte sie sich keuchend ans Treppengeländer. Schon wieder war der Aufzug außer Betrieb, das zweite Mal innerhalb von drei Wochen. Plötzlich vibrierte es in ihrer Tasche. Sie steckte die Hand hinein und griff nach dem vibrierenden Gerät. Auf dem leuchtenden Bildschirm stand über den roten und grünen Symbolen „Andon”. Sie schaltete das Telefon aus und steckte es wieder ein. Was immer es sein mochte, er musste nun ohne sie auskommen. Bardhana setzte ihre Odyssee fort. Nach einer zweiten Pause im zweiten Stock kam sie endlich ans Ziel. Sie öffnete die Tür zu Zimmer F3.07. Da waren die anderen Teilnehmer. Alle schauten auf ihre Smartphones und tippten eifrig. 

„Hallo“, sagte sie in die Runde. Ein paar konnten es sich leisten, ihre Blicke für ein paar Sekunden von ihren Handys wegzureißen, um sie wahrzunehmen. Die meisten erwiderten ein kaum vernehmbares Hallo, ohne sie jedoch anzusehen. 

Bardhana setzte sich auf einen freien Stuhl und wischte mit der Hand über den Tisch. Auf ihm lagen abgeriebene Radiergummireste. Offensichtlich war vorher eine andere Gruppe in dem Raum gewesen, dachte sie bei sich. Sie warf einen Blick in die Runde.     

Da war Maria aus Kolumbien, die von den Teilnehmern am längsten in Deutschland lebte: 20 Jahre. Nun wollte sie die deutsche Staatsbürgerschaft beantragen. Dafür musste sie zuerst einen Integrationskurs erfolgreich absolvieren. Dass sie es als eine Zumutung empfand, einen Sprachkurs mit anderen schlecht deutschsprechenden Ausländern zu besuchen, tat sie bei jeder Gelegenheit kund. Sie spreche ja perfektes Deutsch, meinte sie andauernd. Aber irgendwas musste ja an ihrem „perfekten Deutsch“ nicht stimmen, wenn die Einbürgerungsstelle ihr den Besuch eines Integrationskurses antrug, dachte sich Bardhana. Neben ihr saß Eylül, erst seit 5 Monaten in Deutschland. Davor lebte sie in Izmir, wo sie ihren türkischen Mann kennenlernte. Der wohnte aber schon seit Ewigkeiten in Deutschland und hatte sogar einen deutschen Pass. Und dann gab es John aus Ghana, der immer eine Kappe trug und darauf bestand, dass alle ihn Johann nannten, weil das für einen Afrikaner einfach exotischer klang. Amina, seine Sitznachbarin aus Tunesien, studierte Ingenieurwissenschaften in Tunis und sprach mit einem französischen Akzent, der Bardhana am Anfang etwas irritiert hatte. Sie hatte nämlich nicht gewusst, dass man in Algerien Französisch sprach. Heute trug Amina ein rotes Kopftuch mit bunten Blumenmustern. Sie trug immer schöne Kopftücher. Als Kind trug Bardhana sie auch, nun aber seit langem nicht mehr. Dann gab es die schüchterne und zurückhaltende Lejla aus Bosnien. Vorne saß Reyansh, aus Indien. Er war zweifelsfrei der Streber der Gruppe. Der meldete sich bei jeder Gelegenheit, entweder um Fragen zu beantworten oder sie zu stellen. Wobei er oft Fragen zu Themen hatte, die erst im nächsten Modul bearbeitet werden sollten. Dieses Verhalten, so fand Bardhana, verfolgte zwei Ziele: Der Lehrerin zu imponieren und den anderen Teilnehmern zu zeigen, wie fortgeschritten er war. Es genügte zu sagen, dass Reyansh nicht besonders beliebt war. Dann waren da noch Jakub und Szymon, beide Cousins aus Polen. Szymon schien der sprachlich begabte der beiden zu sein. Er übersetzte Jakub alles simultan ins Polnische, sodass Jakub kaum jemals einen einzigen Satz auf Deutsch zustande brachte.

Die quietschende Tür brach Bardhanas Gedanken ab. Frau Sokolova trat lächelnd ein. Sie war eine blonde, schlanke Russin Anfang vierzig, die ihren deutschen Mann vor etwa 10 Jahren in Russland kennenlernte. In Deutschland angekommen absolvierte sie ein Bachelorstudium in Deutsch als Fremdsprache. Seit 3 Jahren leitete sie Integrationskurse. Das alles teilte sie der Gruppe in der ersten Unterrichtsstunde mit, als Teil des gegenseitigen Kennenlernens. Heute sah sie, wie immer, sehr stilvoll aus, stellte Bardhana fest. Sie trug eine weiße Seidenbluse. Eine knöchelhohe, enge marineblaue Hose akzentuierte ihre kurvige Hüfte und langen Beine. Aus den dunkelblauen Peeptoepumps guckten dunkelrot lackierte Fußnägel heraus, die die Farbe mit ihren Fingernägeln teilten. Ihre Erdbeerblonden Haare wurden straff nach hinten gezogen. Eine goldene Haarbrosche hielt die Frisur zusammen, sodass keine einzige Strähne deplatziert war. 

„Guten Tag zusammen“, sagte sie lächelnd.

„Guten Tag“, antwortete die Klasse im Chor, wobei die Männerstimmen deutlicher zu vernehmen waren. Begaffend lächelten sie Frau Sokolova an. Bardhana verdrehte die Augen. 

„Zuerst möchten wir die Hausaufgaben kontrollieren. Wer hat sie gemacht?“ 

Als Antwort bekam die Lehrerin Stille und ein paar schuldige Blicke. Nur Reyansh hob erwartungsgemäß die Hand. Bardhana hatte zwar die Hausaufgabe gemacht. Da sie jedoch sicher war, dass ihre Antworten alle falsch waren, blieb auch sie still. 

„Hausaufgaben sind sehr wichtig. Wenn Sie die Hausaufgaben nicht machen und zu Hause nicht lernen, verlernen sie alles.“ Beim Aussprechen der Wörter verlernen und sehr konnte man Frau Sokolovas slawischen Hintergrund ganz deutlich erkennen. Die Betonung der Rs war unüberhörbar.

„Ja, Sie haben recht, Lehrerin. Wir müssen Deutsch lernen. Wir sind jetzt in Deutschland“, gab Reyansh selbstgefällig von sich. Die bösen Blicke, die er von den anderen Teilnehmern für seine Arschkriecherei erntete, schien er nicht im Entferntesten zu bemerken. Die einzige Reaktion, für die er sich interessierte, bekam er von der Lehrerin: Ein zustimmendes Nicken.

Nach der gemeinsamen Korrektur der Hausaufgaben griff Frau Sokolova nach der Kreide und schrieb auf die Tafel Wechselpräpositionen. Sie wandte sich der Klasse zu. Auf ihrer marineblauen Hose waren nun weiße Kreidepartikel verstreut. 

„Heute lernen wir etwas über Wechselpräpositionen. Weiß jemand, was eine Wechselpräposition ist?“ Als Antwort bekam sie ahnungslose Blicke. Wenn wir das wüssten, säßen wir ja nicht hier, dachte Bardhana bei sich. Frau Sokolova schaute Reyansh erwartungsvoll an, der sonst auf alle Fragen eine Antwort parat hatte. An Reyanshs Gesicht war diesmal jedoch seine Ahnungslosigkeit klar zu erkennen. Um die schöne Lehrerin aber nicht zu enttäuschen, wagte er eine Antwort. 

„Wechselpräposition ist zum Beispiel, ich gehe Supermarkt einkaufen. Ich kaufe zum Beispiel Brot. Aber zu Hause, ich sehe Brot ist kaputt. So ich gehe zurück in Supermarkt und ich wechsele Brot.“ Dem Wort wechsele gab er eine hörbare Betonung. Wahrscheinlich um den Zusammenhang zwischen seiner Antwort und der Frage herauszustellen.

„Netter Versuch, Reyansh. Aber das ist nicht ganz richtig“, antwortete Frau Sokolova in einem beschwichtigenden Ton. Da sich sonst keiner meldete, fuhr sie fort.

„Dann erkläre ich Ihnen, was Wechselpräpositionen sind.“ Zu einer Erklärung kam sie jedoch nicht. Die Tür sprang nämlich auf. Herein trat Hanh.

„Entschuldigung, Lehrerin. U-Bahn Verspätung.“ 

„Kein Problem, Hanh. Setzen Sie sich ruhig hin“, antwortete Frau Sokolova, von der Entschuldigung unbeeindruckt. Sicher wunderte sie sich, mit welcher U-Bahn Hanh fuhr, die seit Beginn des Kurses immer Verspätung hatte. Bardhana wusste aber, dass Hanhs wiederholtes Zuspätkommen nichts mit der Effizienz der öffentlichen Verkehrsmittel zu tun hatte. Eine viel wahrscheinlichere Erklärung war die Tatsache, dass Hanh jeden Tag um 5 Uhr aufstehen musste, um ihrem Bruder in seinem vietnamesischen Restaurant zu helfen. Zwischen 12 und 14 Uhr war Hochbetrieb. Da der Unterricht jeden Tag um 14 Uhr anfing, war es für Hanh beinah unmöglich, pünktlich zum Unterricht zu kommen. Sie setzte sich lächelnd zu Bardhana und holte ihre Bücher heraus.

Frau Sokolova fuhr mit dem Unterricht fort. „Wechselpräpositionen sind Präpositionen, die sowohl mit Akkusativ, als auch mit Dativ stehen können.“ Die Teilnehmer schrieben eifrig diese Erklärung auf, auch wenn auf einigen Gesichtern immer noch Ahnungslosigkeit zu sehen war.   

„Wichtig ist dabei, ob es eine Bewegung gibt“, fuhr die Lehrerin fort. 

Sie wandte sich wieder zur Tafel und schrieb das Wort Bewegung darauf.

„Alle das Wort wiederholen“, forderte sie die Klasse auf.

Im Chor sprachen alle  den Begriff nach, wobei sie die zweite Silbe ganz langsam ausdehnten: Beweeeegung

Frau Sokolova wiederholte das Wort und wiegte sich anschaulich hin und her. Die Teilnehmer ahmten nach. „Beweeeegung“, schrie sie nochmals. Die oszillierende Bewegung in Kombination mit dem Psalmodieren brachte einige Teilnehmer zum Kichern. 

„Wenn es keine Bewegung gibt, benutzt man das Fragewort wo und antwortet immer im Dativ. Wenn es aber eine Bewegung gibt, benutzen wir das Fragewort wohin. Dann muss man im Akkusativ antworten.” Sie wandte sich erneut zur Tafel und schrieb die Wörter wo und wohin darauf.

„Ein Beispiel ist die Präposition auf. Die kann man mit Dativ und Akkusativ benutzen.“ Frau Sokolova nahm ein Buch und legte es ganz langsam und schauspielerisch auf den Tisch. Diese Handlung begleitend sagte sie: „Wohin lege ich das Buch?” Sie wartete keine Antwort ab. „Ich lege das Buch auf den Tisch. Man sagt den Tisch, weil das Akkusativ ist.“ Sie betonte das Wort den um seine Wichtigkeit für ihre Erklärung deutlich zu machen. „Aber jetzt, wo das Buch auf dem Tisch ist und es keine Bewegung mehr gibt, fragt man: Wo ist das Buch? Und die Antwort ist: Das Buch ist auf dem Tisch.“ Diesmal lag die Betonung auf dem, merkte Bardhana, als sie die Sätze aufschrieb. Dabei fragte sie sich, wer zum Teufel auf die Idee kam, eine bewegende Handlung mit dem Akkusativ und einen stationären Zustand mit dem Dativ zu verbinden. Worin bestand bitteschön die Logik? Sie überlegte sich, ob ein ähnliches sprachliches Phänomen im Albanischen auch zu finden war.

„I have a question.“ Der Satz riss Bardhana aus ihren Überlegungen. Noch bevor sie den Sprecher sah, wusste sie schon, wer es war. Seitdem John herausgefunden hatte, dass die Lehrerin Englisch verstand und passabel sprechen konnte, hatte er sich entschlossen, alle seine Fragen nur noch in dieser Sprache zu stellen. In Ghana sprach man anscheinend Englisch.    

„Auf Deutsch bitte“, antwortete Frau Sokolova entschlossen. „Sie sind hier im Deutschkurs. Sie müssen Deutsch sprechen.“

„Okay, no problem. Meine question ist, wenn ich sage zum Beispiel: Das Buch ist auf den Tisch. Die Leute verstehen mich oder nicht?“ 

„Ja, die Deutschen verstehen Sie zwar, aber dann ist der Satz grammatisch falsch“, antwortete die Lehrerin seufzend.

„Is mir egal“, sagte John grinsend, offensichtlich mit seiner nonchalanten Attitüde zufrieden. Zustimmung bekam er von den anderen Teilnehmern. Auch Bardhana fand, dass es letztendlich doch egal war, ob man den Tisch oder dem Tisch sagte. Solange man Tisch sagte. So penibel konnten die Deutschen ja nicht sein. Außerdem gab es weitere zigtausend Grammatikregeln, die man noch pauken musste. 

„Aber wir müssen richtig deutsch sprechen. Nicht Straßendeutsch“, konterte Reyansh und musterte John missbilligend. Dieser war im Begriff eine, wie es schien, nicht so schöne Antwort zu liefern, als die Lehrerin ganz laut sagte: „Wir machen jetzt eine Pause. Danach machen wir ein paar Übungen. Sie haben 30 Minuten.” Damit konnte glücklicherweise ein Wortgefecht unvorstellbaren Ausmaßes abgewendet werden. Bardhana schaute auf ihre Armbanduhr und entschied sich für einen schnellen Einkauf. 

Zum Glück war im Erdgeschoss des Gebäudes ein Obst- und Gemüseladen. Heute Abend stand Pasul an. Das war Andons Lieblingsgericht. Sie hatte fast alles, was sie dafür benötigte. Es fehlten nur Zwiebeln. Vor dem Laden stehend schaute sie sich die verschiedenen Zwiebelsorten an. Bardhana runzelte die Stirn und überlegte, welche sich am besten für das Gericht eignete. Sie war im Begriff, die Gemüsezwiebeln in die Hand zu nehmen, als es in ihrer Tasche vibrierte. Bardhana griff hinein und holte das Handy heraus. 

„Was willst du nun?”, fragte sie barsch.

„Wo warst du die ganze Zeit? Ich versuche seit Stunden dich zu erreichen.”

Andon klang wie ein verwöhntes, hilfloses Kind. Aber das war er nun mal. Sie hatte ihn zu sehr bemuttert. Zu Hause machte er keinen Finger krumm. Er wusste nicht mal, in welcher Schublade das Salz zu finden war. Und nach 35 Jahren Ehe, würde sich das in absehbarer Zeit auch nicht ändern. Aber wenn sie ehrlich war, musste sie sich eingestehen, dass sie es auch nicht anders wollte. Sie mochte es, die Kontrolle zu haben. Das Gefühl ständig gebraucht zu werden, war ein Zeichen dafür, dass sie in seinem Leben noch relevant war. Ein Zeichen dafür, dass er ohne sie verloren wäre. Aber das würde sie niemals verraten. Sie spielte stattdessen lieber die Rolle der genervten Ehefrau, die keine Ruhe fand. Außerdem brauchten Männer Führung. Das hatte die Oma immer gesagt.  

„Was stellst du denn für dumme Fragen? Du weißt doch, dass ich im Deutschkurs bin.” 

„Oh, tut mir leid. Das habe ich vergessen”, antwortete Andon etwas unsicher. 

„Nun, sag schon. Was willst du denn? Ich bin jetzt beim Einkaufen.” 

„Weißt du, wo meine Socken sind? Ich finde sie nirgendwo.”

Bardhana war im Begriff ihrem Mann auf Albanisch zu antworten, doch dann hielt sie inne. Sie räusperte sich, atmete ganz tief durch und sagte ganz langsam auf „Deine Socken sind unter dem Bett.” Die Wörter unter dem sprach sie noch langsamer aus, um sicherzustellen, dass sie den richtigen Kasus verwendete. 

Noch bevor Andon sich von dem unerwarteten Sprachwechsel erholen konnte, beendete Bardhana das Gespräch. Sie lächelte selbstzufrieden vor sich hin, als sie nach einer Gemüsezwiebel griff.    

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