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                                                                 Die helfende Hand

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Es wird regnen.“

Emma starrte aus dem Fenster auf den hellen Himmel, während sie der alten Frau mit der Bürste durch das Haar fuhr. Es gab kaum Widerstand. Die silbernen Strähnen glitten wie flauschige Wolken durch die Borsten. 

„Es sieht nicht so aus.“

„Meine Arthritis macht mir zu schaffen. Das passiert nur, wenn es bald regnet.“

„Mmh.“ Es hatte keinen Sinn, ihr zu widersprechen. Das war nicht der Grund, warum sie hier war.

„Ich hoffe, ich bürste dein Haar nicht zu fest.“

„O nein. Du machst das gut, Liebes.“ Die alte Dame drehte den Kopf und schenkte Emma ein Lächeln. Feine Wellenlinien zeichneten sich auf ihren Zügen ab.

„Kann ich dir noch etwas bringen, bevor ich die Wäsche mache?“, fragte Emma, als sie die Haarbürste auf den Beistelltisch legte.

„Ich möchte mich nicht aufdrängen, aber könntest du mir helfen, die Post zu sortieren?“ Sie deutete auf den Mahagonitisch, der neben dem Spinettklavier stand. „Meine Augen sind nicht mehr das, was sie einmal waren, selbst mit der Brille.“

Emma ging den Stapel durch; es war hauptsächlich Werbepost. Eine bewarb eine bezuschusste Urlaubsreise auf die Malediven. Sie glaubte nicht, dass Gertrud in nächster Zeit unter üppigen Palmen liegen und an einer Piña Colada nippen würde. Sie hingegen konnte eine Auszeit gut gebrauchen. Zwischen einem Stapel von Prospekten lag eine Postkarte. 

„Hier ist eine Postkarte von deinem Sohn.“ Emma ließ sich auf die Couch sinken. 

„Von Wolfi?“ Die Unterlippe der alten Frau bebte vor Aufregung. „Was steht da?“

„Geburtstagsgrüße. Sie wünschen dir alles Gute.“

„Sie?“

„Ja, es ist mit Wolfgang und Vanessa unterschrieben.“

Bei der Erwähnung des letzten Namens grummelte die alte Frau. Mehr Falten erschienen auf ihrer Stirn.

„Ich wusste nicht, dass du heute Geburtstag hast.“

„Das war vor sieben Monaten. Bevor du anfingst, hierher zu kommen.“ Sie zappelte mit den Fingern. „Außerdem habe ich aufgehört, mich für Geburtstage zu interessieren, nachdem Helmut gestorben ist.“ Sie strich mit den Händen über ihren Rock, als würde sie unsichtbare Falten glätten.  

„Nun, es ist nett von ihm, dass er sich erinnert.“

„Früher hat er öfter geschrieben und angerufen. Aber seit er diese Amerikanerin getroffen hat, bekomme ich nur noch Postkarten zu Geburtstagen und Weihnachten.“    

Emma streichelte die Hand der alten Frau und schenkte ihr ein Lächeln. Sie machte sich auf den Weg ins Bad. Inzwischen wusste sie, welche Wäsche zu welchem Waschmittel passte, welche mit der Hand gewaschen werden musste, welche sie mit Essig beträufeln musste, bevor sie sie in die Waschmaschine warf. Das verhinderte, dass die Farbe auslief, meinte die alte Frau. Sie drückte auf den Startknopf und wartete das zischende Geräusch ab, bevor sie sich auf den Weg zurück ins Wohnzimmer machte. 

Gertrud war inzwischen eingenickt. Ihr Kopf hing schlaff zur Seite, als hätte man ihr den Hals umgedreht. Bis auf das Schnarchen und die langsamen, aber stetigen Bewegungen ihres Brustkorbs hätte man sie für tot halten können. Wenn es nur so wäre, dachte Emma, als sie auf der Couch zusammensackte und einen Seufzer ausstieß.

Sie fragte sich, wie lange sie das noch aushalten musste. 

Anke hatte fast ein Jahr mit ihrer ersten alten Dame verbracht, bevor diese den Löffel abgab. Aber es hatte sich gelohnt, sagte sie: zehntausend Euro, ein paar Schmuckstücke und ein iPhone.     

„Man muss ihnen einfach das Gefühl geben, geliebt zu werden“, sagte Anke, als sie in der Uni-Mensa zu Mittag aßen.

„Sieh es als Bezahlung für geleistete Dienste“, fügte sie schnell hinzu, als sie Emmas Skepsis spürte. 

„Aber wie groß sind die Chancen, dass du tatsächlich etwas dabei herausbekommst?“

„Besser als Lotto spielen, das kann ich dir schon mal sagen.“ Anke stopfte sich ein großes Stück Wiener Schnitzel in den Mund. „Es gibt keine Garantien, wenn du das meinst. Man versucht es einfach so lange, bis man Glück hat.“

Eine Woche später war Emma auf der Website www.helpforgreys.de. Es war wichtig, sich auf die wirklich Alten einzulassen, hatte Anke gesagt, niemanden unter achtzig. Die meisten Profile waren von Frauen. Es gab einige Ehepaare und vereinzelt ein paar Männer. Emma blätterte durch die lächelnden, faltigen Gesichter. 

Sie hielt bei einem zerknitterten Gesicht inne. Sie las die Info: weiblich, 74, braucht Hilfe beim Einkaufen, bei Arztbesuchen und bei der Körperpflege. Interessierte Kandidaten sollten mindestens dreimal pro Woche verfügbar sein, vorzugsweise an Wochentagen. Sie klickte auf das Profil. Eine Reihe von Porträtbildern erschien auf ihrem Bildschirm. Auf einem hielt die alte Dame eine Katze. Emma war allergisch gegen Katzen. Sie klickte auf das rote X in der oberen rechten Ecke. Außerdem hatte die Dame, wenn man die Sterblichkeitsrate für Frauen in Deutschland berücksichtigte, noch einige Jahre vor sich.

Sie scrollte weiter. Ihr Blick blieb an einem Gesicht mit einem warmen Lächeln hängen. Ihr tadelloses Gebiss und die Perlenkette weckten Emmas Interesse. Ein Indiz dafür, dass es dieser Person nicht schlecht ging. Ihre Angaben waren ebenso vielversprechend: 88 Jahre alt, verwitwet, Hilfe im Haushalt und beim Einkaufen, mindestens einmal pro Woche. Sie lebte in einem durchschnittlichen Mittelklassebezirk. Das war gut. 

„Von den einkommensschwachen Vierteln sollte man sich fernhalten. Die Alten dort haben kaum genug für sich selbst, geschweige denn etwas zu vererben. Und Reiche wirst du auf der Webseite sowieso nicht finden. Die haben genug Geld, um sich professionelle Hilfe zu leisten“, hatte Anke gesagt.  

Emma klickte auf den Button 'Ich will helfen'. Am nächsten Tag erhielt sie einen Anruf. Die Stimme am anderen Ende klang aufgedreht und enthusiastisch.

„Wir sind immer wieder froh, wenn wir Freiwillige finden, die bereit sind, ihre Zeit und Energie den Menschen zu schenken, die es am meisten benötigen“, quiekte die Frau. „Besonders in dieser Zeit des Egoismus und der Missachtung der älteren Generation.“

„Natürlich. Auf jeden Fall“, stimmte Emma zu.

„Erzählen Sie mir ein wenig von sich und was Sie dazu bewogen hat, zu helfen. Es ist wirklich wichtig, dass wir wissen, mit wem wir unsere Mitglieder verbinden.“

Sie war eine Studentin, Hauptfach Philosophie, viertes Semester. Und warum wollte sie helfen?

„Es geht wirklich darum, etwas zurückzugeben. Diese Menschen haben buchstäblich geholfen, dieses Land nach dem Krieg aufzubauen. Das ist das Mindeste, was ich oder irgendjemand meiner Generation tun kann, wissen Sie?“

„Ich bin ganz Ihrer Meinung“, trillerte die Stimme.

Eine Woche später stand sie vor Gertruds Einfamilienhaus. Sie hatte Blumen und Kuchen mitgebracht. Sie befürchtete, es wäre ein bisschen zu viel. Aber Ankes Stimme hallte immer wieder in ihrem Kopf. „Denk daran, deine Aufgabe ist es, das Kind oder Enkelkind zu sein, das sie nie hatten.“

„Oh, wie schön. Aber das wäre wirklich nicht nötig gewesen“, sagte Gertrud, während sie mit der linken Hand den Strauß entgegennahm, die rechte stützte sich fest auf einen Spazierstock mit einem goldenen Knauf.

„Es ist peinlich, Fremde um Hilfe zu bitten, aber seit dem Herzinfarkt ist es ziemlich schwierig“, sagte Gertrud, während sie sich in den Sessel sinken ließ und den Stock vorsichtig an die Wand lehnte.

„Ich verstehe. Meine Großmutter war auch so. Sie wollte sich von niemandem helfen lassen.“ 

„Immer über die Familie reden.“  Wieder Ankes Stimme.

Gertruds Mann, Helmut, war vor zehn Jahren gestorben. Sie hatte einen Sohn, der in den Staaten lebte. Die meisten ihrer Freunde waren entweder tot oder lebten in einer Einrichtung. Sie konnte sich nicht vorstellen, in einem Heim zu leben. Dieses Haus hatten sie und Helmut vor vierzig Jahren gekauft, und hier wollte sie ihren letzten Atemzug tun.   

                                                                                   ***

Der laute Piep der Waschmaschine weckte Gertrud aus ihrem Schlummer. Sie stieß ein phlegmatisches Husten aus, während sie sich etwas benommen umsah. Der Blick aus den tränengrauen Augen fiel auf Emma.

„Du bist ja immer noch da.“

„Ich wollte nicht gehen, ohne mich vorher zu verabschieden. Außerdem muss ich noch die Wäsche aufhängen.“

„Das ist lieb von dir. Aber das würde ich lieber selbst machen. Der Arzt hat gesagt, ich muss aktiv bleiben.“ 

Sie streckte eine geäderte Hand aus, die Emma prompt ergriff und leicht drückte. Sie beugte sich vor und gab der alten Frau einen leichten Kuss auf die Wange.

Sie machte sich auf den Weg zur Tür. Als sie in ihre Jacke schlüpfte, fragte sie: „Und was hat der Arzt sonst gesagt?“

„Na ja, was gibt es sonst zu sagen? Ich bin eine alte Frau. Alles, was er tun kann, ist, mich mit Medikamenten vollzupumpen. Irgendwann müssen wir ja alle gehen. Alles, was man jetzt tun kann, ist warten.“ Ein schwaches Lächeln folgte.

Das war Emmas Chance. 

„Man sollte nie erwähnen, was danach kommt. Warte, bis sie es tut“, hatte Anke gesagt.

„Ich sehe es genauso. Ich wünschte, meine Großmutter wäre so entspannt gewesen wie du. Sie hat ihre letzten Monate damit verbracht, sich um ihre Sachen zu sorgen, darum, wer was bekommt. Wir haben versucht, sie davon zu überzeugen, dass es wichtiger ist, Zeit mit ihren Lieben zu verbringen als mit dem, was nach ihrem Tod passiert.“

Die alte Frau hatte einen nachdenklichen Ausdruck im Gesicht, als Emma die Tür hinter sich schloss.

Gertrud starb einen Monat später. Emma hatte sie besucht, wie immer. Sie fragte sich, ob die alte Frau eingeschlafen war, als sie nach dem dritten Klingeln keine Antwort erhalten hatte.

„Sie sind wegen Gertrud hier, richtig?“  

Die Worte kamen von einem Mann, der ein paar Meter von Emma entfernt einen Kinderwagen schob.

„Es tut mir leid, aber sie ist letzten Freitag verstorben.“

Sie hatten sich zuletzt am Mittwoch gesehen. Sie hatte müde ausgesehen, wie immer. Aber es hatte keine Anzeichen dafür gegeben, dass sie so nahe dran war. 

„Man hat sie im Bett gefunden. Ihr Arzt meint, dass es friedlich war. Das ist alles, worauf man hoffen kann, nicht wahr?“

Emmas Herz raste. Das war es. 

„Ich habe gehört, dass es nächste Woche einen Gedenkgottesdienst geben soll.“

„Wissen Sie, wo?“ 

„In der Baptistenkirche die Straße runter, nehme ich an.“

Als sie von der Tür wegging, rief sie Anke an.

„Du musst zu dieser Gedenkfeier gehen.“

„Und was, wenn sie mir gar nichts hinterlassen hat?“

„Es gibt nur eine Möglichkeit, das herauszufinden. Und selbst wenn sie nichts hinterlassen hat, könnte ihr Sohn geneigt sein, dir etwas zu geben, aus Dankbarkeit.“

Der Gottesdienst war überfüllt. Emma fragte sich, woher all diese Leute kamen, aber vor allem, wo sie die ganze Zeit gewesen waren, als Gertrud allein war und Hilfe brauchte. Einige tupften sich mit weißen Taschentüchern die Augen, während der Pfarrer seine Predigt hielt. Sie erkannte Wolfgang, sobald der Gottesdienst zu Ende war, denn alle Gäste schwärmten auf ihn zu wie Bienen auf eine Honigwabe, klopften ihm auf die Schulter und umarmten ihn. Sie wartete, bis sich die Menge zerstreut hatte, bevor sie auf ihn zuging.

„Herr Wagner?“ 

Wolfgang streckte die Hand aus, ein automatisches, schwermütiges Lächeln auf den Lippen.

„Mein Name ist Emma Schenk. Ich war eine Freundin Ihrer Mutter.“

Der Mann neigte den Kopf, eine Falte bildete sich zwischen seinen Augenbrauen.

„Ich habe die letzten acht Monate damit verbracht, mich um sie zu kümmern“, fügte Emma hinzu, um etwas Klarheit in das Gespräch zu bringen.

„Ja, natürlich. Meine Mutter hat Sie ein paar Mal erwähnt.“

Emmas Herzschlag beschleunigte sich. Dass die alte Frau über sie gesprochen hatte, war definitiv ein gutes Zeichen.

„Ich war untröstlich, als ich davon hörte.“ Sie senkte den Blick und führte rasch ein Taschentuch an ihre trockenen Augen.  

„Wissen Sie, ich habe meine Großmutter nie gekannt. Sie starb, als ich noch ein Baby war. Gertrud war also nicht nur eine Freundin, sie war wie die Oma, die ich nie hatte.“ Sie tupfte sich noch ein paar Mal die Augen ab. „Hätte ich nur die Chance gehabt, mich von ihr zu verabschieden.“ Sie ließ ihre Stimme brechen.

„Wissen Sie, ob sie etwas für mich hinterlassen hat, eine Nachricht vielleicht?“ Schließlich hob sie den Blick. Das Gesicht, das sie anstarrte, zeigte keine Regung.

„Nein. Haben Sie etwas erwartet?“

Emma erkannte eine Eiseskälte in Wolfgangs beiläufigem Ton. 

Bevor sie etwas erwidern konnte, streckte er ihr die Hand entgegen und sagte: „Vielen Dank, dass Sie gekommen sind, Frau Schenk. Schönen Tag noch.“ Der Spott in seinem Lächeln war kaum zu übersehen.

Emma drehte sich um und ging aus der Kirche. Ihre Augen hatten ihre Trockenheit verloren.   

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